Die Bundestagspräsidentin traut ihren Abgeordneten einiges zu. Als Julia Klöckner (CDU) vor einigen Wochen gefragt wurde, warum sie den Linken-Abgeordneten Marcel Bauer im Mai wegen des Tragens einer Baskenmütze des Plenarsaals verwiesen hatte, erklärte sie dies zur notwendige Präventivmaßnahme: „Wenn der eine eine Mütze anziehen dürfte“, so Klöckner, „dann kommt der andere mit dem Stahlhelm und das wollen wir eben auch nicht.“
Auch sonst ist Klöckner strikt in ihrer Auslegung der optischen Neutralität im Bundestag. Gerade hat ihr Büro eine neue Direktive herausgegeben, die den Abgeordneten grundsätzlich das Tragen von Pins oder Ansteckern an der Kleidung untersagt. Im Juni hatte sie eine Bundestagssitzung unterbrochen, um Cansins Köktürk, ebenfalls Linke, aus dem Plenarsaal zu schicken. Die 31-Jährige trug ein T-Shirt mit Palästina-Aufdruck. Zuletzt mussten bei der Gedenkstunde zum Massaker von Srebrenica Überlebende kurzfristig ihre Ansteck-Blume abnehmen.

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Um Klöckners neue Direktive gibt es entsprechende Aufregung. In unserer Rubrik „3 auf 1“ schreiben jetzt deshalb drei Tagesspiegel-Kollegen, ob der Bundestag vielleicht eine Kleiderordnung braucht.
Formelle Kleidung erhöht die Konzentration

Ariane Bemmer ist verantwortlich für die Debattenseite und schreibt regelmäßig zu Gesellschaftsthemen. Sie findet: Wer etwas zu sagen hat, kann den Mund aufmachen – das Ausgesprochene ist viel facettenreicher und bedenkenswerter als T-Shirt-Slogans es je sein könnten.
Gibt man der Wissenschaft den Vorzug, ist die Lage klar: Formelle Kleidung erhöht die Konzentration, Anstrengungs- und Abstraktionsfähigkeit und die Identifikation mit den Aufgaben. Das sind Ergebnisse der California State University – und schon die allein lassen formelle Kleidung überall angezeigt erscheinen, wo Wichtiges besprochen und entschieden wird. Wozu der Bundestag sicher gehört.
Deshalb ist Bundestagspräsidentin Julia Klöckner erstmal beizupflichten, wenn sie strenger als bisher auslegt, was zur bundestagsordnungsgemäßen Bekleidung und Ausstaffierung der Abgeordneten geeignet ist. Auch Inhaltliches spricht dafür. Wer heute noch mit Ätsch-Mützen, Anti-Logo-Shirts oder Stickern Statements setzen oder provozieren will, hat die vergangenen Jahre wohl verschlafen. Die Gemüter sind allgemein längst überhitzt, wozu immer noch nachfeuern?
Alle, die etwas zu sagen haben, können den Mund aufmachen und reden. Und wenn sie das denn tun, stellt sich garantiert in jedem einzelnen Fall heraus, dass das Ausgesprochene so viel facettenreicher, klüger und bedenkenswerter ist als T-Shirt-Slogans oder Ätsch-Mützen je sein könnten. Wozu sich damit also selbst einschränken?
Klöckner steckt im Kulturkampf der Klamotten

Felix Hackenbruch ist als politischer Korrespondent regelmäßig im Bundestag und unter Parlamentariern unterwegs. Er sagt: Julia Klöckner hat sich in eine Sackgasse manövriert. Abgeordnete sind keine kleinen Kinder, denen man abends die Klamotten herauslegt.
Eigentlich scheint Julia Klöckner eine humorvolle Politikerin zu sein. Ihre Bürgersprechstunde macht sie zur Gassi-Runde mit Labradoodle Ella, auf der Fasnacht in ihrem Wahlkreis tritt sie als Matrosin auf. Doch im Bundestag hört der Spaß für die Bundestagspräsidentin auf. Baskenmützen, bedruckte T-Shirts, Regenbogenfahnen und jetzt auch Anstecknadeln will die
CDU-Politikerin verbieten. Keine Aidsschleifen, keine Blume von Srebrenica, keine gelbe Schleife, die an die Hamas-Geiseln erinnert. Bloß keine politischen Botschaften im Bundestag!
Klöckner steckt im Kulturkampf der Klamotten. Dass sie den nur verlieren kann, zeigt die Geschichte. In den 70er Jahren galt es als Skandal, dass Frauen im Bundestag im Hosenanzug Reden hielten, in den 80er Jahren empörten die Strickpullover der Grünen die Gemüter. Zeiten ändern sich, die Mode auch.
Klöckner hat sich in eine Sackgasse manövriert. Bleibt sie bei ihrer Linie, muss sie bald Abgeordnete mit ausgefallenen Frisuren oder religiösem Schmuck aus dem Hohen Haus werfen. Abgeordnete sind keine kleinen Kinder, denen man abends die Klamotten herauslegt. Kleiderordnungs-Debatten beschädigen die Würde des Bundestags viel mehr als ein kleiner Regenbogen am Revers.
„Die Würde des Hauses achten“ – das kann doch nicht so schwer sein

Johannes Altmeyer verantwortet beim Tagesspiegel die Koordinierung und Weiterentwicklung des Newsletter-Portfolios und kennt sich mit guter Kleidung aus. Er sagt: Die Bundestagspräsidentin weiß, wie mächtig Bilder sein können.
Einer der schönsten Beiträge in der Diskussion über die Kleiderordnung im Deutschen Bundestag kommt von Irene Mihalic. Die parlamentarische Geschäftsführerin der Grünen bat jüngst Parlamentspräsidentin Julia Klöckner in einem Brief darum, mehr „präsidiale Ruhe und Differenziertheit auszustrahlen“.
Die Christdemokratin könne mit ihrer (offenbar zu) strengen Auslegung der Geschäftsordnung im Bundestag „Debatten in Whataboutism-Manier“ auslösen und „einen Kulturkampf triggern“. So weit, so kompliziert.
Aber ist es das wirklich? Wichtig ist es, sich daran zu erinnern, dass es im höchsten deutschen Parlament keine hinterlegte Kleiderordnung oder gar einen festen Dresscode gibt. Die Geschäftsordnung legt lediglich fest, die „Würde des Hauses“ zu achten. Auf dieses Ziel sollten sich alle Politikerinnen und Politiker, unabhängig ihrer Parteizugehörigkeit, einigen können.
Klöckner will keine politische Symbolik im Bundestag zulassen, sie weiß, wie mächtig Bilder sein können. Wie schnell das politische Herz einer Republik seine Würde im Kulturkampf verlieren kann, zeigen die Vereinigten Staaten von Amerika. Dort tritt die rechte Republikanerin Marjorie Taylor Greene immer wieder in knallroten Maga-Outfits im Abgeordnetenhaus auf – mehr Kulturkampf geht nicht.
Die Dimensionen mögen unterschiedlich sein, aber die Botschaft ist dieselbe: Ist die „Würde des Hauses“ erst einmal beschädigt, ist auch die des Landes in Gefahr.