Als sie die Grenze von Afghanistan nach Iran überquerte, konnte Tahera Rezaie kaum etwas sehen. Zum ersten Mal in ihrem Leben trug sie eine Burka. Angst habe sie gehabt und sich hinter ihrer Mutter versteckt gehalten, erzählt sie heute, vier Jahre später, in Berlin. Einen knappen Monat vor ihrer Grenzüberquerung waren die Taliban an die Macht zurückgekehrt. Und Tahera Rezaie musste um ihr Leben fürchten.
Im Sommer 2021 übernahmen die Taliban nach dem Abzug der NATO-Truppen die Herrschaft in Afghanistan zum zweiten Mal. Die Rechte von Mädchen und Frauen wurden danach stark eingeschränkt. Heute dürfen sie die Schule nur noch bis zur sechsten Klasse besuchen, der Zugang zum Arbeitsmarkt wird ihnen verwehrt. Intellektuelle, Künstlerinnen und Schauspielerinnen wie Rezaie, die schon im Fernsehen zu sehen und dadurch identifizierbar war, wurden zum Feindbild.
Kurz nach der Rückkehr der Taliban hatte Deutschland angekündigt, afghanische Ortskräfte, die die Bundesrepublik unterstützt hatten und sich nun in Gefahr befanden, nach Deutschland auszufliegen. Bis April 2025 konnten laut Auswärtigem Amt 33.200 Ortskräfte und andere Schutzbedürftige nach Deutschland einreisen. Noch immer warten Menschen mit offiziellen Aufnahmezusagen darauf, nach Deutschland kommen zu können. Die neue Bundesregierung plant währenddessen die Abschaffung des Aufnahmeprogramms.
Rezaie und ihre Kolleginnen gingen in den Untergrund
Für Tahera Rezaie änderte die Rückkehr der Taliban alles. Seit der Schulzeit war sie Teil der Schauspielgruppe Simorgh in Herat, wo Jungen und Mädchen gemeinsam spielten, später arbeitete sie als Finanzmanagerin. Ein ganz normales Leben, sagt sie rückblickend.
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Von einem Tag auf den anderen war all das vorbei. Sie sei gerade bei der Arbeit gewesen, als ihr Bruder sie angerufen habe: Die Taliban sind zurück. Draußen auf den Straßen seien plötzlich nur noch Männer zu sehen gewesen, erinnern sich Tahera Rezaie und ihre Kollegin Sara Khalili, die im Januar als Letzte von 13 Simorgh-Schauspielerinnen nach Deutschland kommen konnte. Die Männer hätten böse Gesichter gehabt und Waffen über der Schulter getragen, beschreibt Khalili mit Gesten.
Rezaie, Khalili und die anderen Frauen der Simorgh-Gruppe gingen in den Untergrund, hielten sich versteckt. In dieser Zeit hätten sie auch von einer Frau gehört, die beim Zirkus gearbeitet hatte. Sie sei erhängt worden. Der einzige Ausweg für Tahera Rezaie, Sara Khalili und die anderen war die Flucht aus ihrem Heimatland. Nach Iran. Pakistan. Von dort irgendwie weiter. Nach Deutschland.

© Katharina Köhler
Teils mussten die Schauspielerinnen jahrelang versteckt ausharren
Geholfen hat das Theaterkollektiv Kula Compagnie. Die Gruppe hat erreicht, dass Rezaie, Khalili und ihre elf Kolleginnen nach Deutschland geholt werden konnten. Im Fall von Rezaie hat das anderthalb Jahre gedauert. Im Fall Khalilis dreieinhalb.
Die Kula Compagnie mit Sitz in Berlin bezeichnet sich selbst als transnationales, mehrsprachiges Theater. Je nach Inszenierung stehen bei ihnen Schauspielende aus Deutschland, Italien, Israel, Algerien, Frankreich oder Russland auf der Bühne. Und inzwischen auch aus Afghanistan. Das möglich zu machen, war nicht leicht.
Sie seien selbst absolute Laien gewesen, erzählt der Kula-Gründer und Regieprofessor der Ernst-Busch-Hochschule, Robert Schuster: „Wir sind keine humanitäre Hilfsorganisation, wir machen Theater.“ Die Herausforderungen hätten schon damit begonnen, dass die afghanischen Kolleginnen teils keine Pässe besaßen. Indem sie den jungen Kolleginnen Studienplätze und Stipendien organisierten, konnten die Frauen schließlich eine nach der anderen einreisen.
Nächste Aufführung der Kula Compagnie in Berlin
- Termin: 24. Mai, 19 Uhr
- Ort: Akademie der Künste, Hanseatenweg 10, 10557 Berlin
- Informationen und Tickets: Website der Akademie der Künste
„Der Dibbuk“ des jüdischen Schriftstellers Salomon An-Ski wurde 1920 uraufgeführt und gilt heute als Klassiker des jiddischen Theaters. Das Stück der Kula Compagnie „DIBBUK – zwischen (zwei) Welten“ baut mit zeitgenössischen und interreligiösen Komponenten auf dem Original auf.

© Katharina Köhler
Zusammenarbeit aus Deutschland und dem Untergrund
Aus dem Untergrund heraus standen die Schauspielerinnen in regelmäßigem Kontakt mit der Gruppe in Berlin und waren sogar schon Teil der Theaterarbeit. In ihren jeweiligen Verstecken spielten die Schauspielerinnen ihre Parts, filmten sich dabei und schickten die Videoschnipsel nach Deutschland. Dort baute die Kula Compagnie die Videos in ihre Werke mit ein.
Auch in Iran war Rezaie allerdings nicht in Sicherheit. Die Revolution sei ausgebrochen, während sie im Land war. Chat-Dienste wie Whatsapp seien überwacht worden. Wenn sie draußen unterwegs war, habe sie so wenig wie möglich gesprochen. An ihrem Akzent war sie leicht als Afghanin zu erkennen. Meist arbeitete sie nachts, schrieb an ihren Skripten, hielt Kontakt nach Deutschland und nahm Videos auf. Einmal am Tag löschte sie den kompletten Inhalt ihres Handys.
Mithilfe der Kula Compagnie entstand so auch aus dem Untergrund heraus der Film „Das fünfte Rad“. Gezeigt wurde er auf Filmfestivals in verschiedenen Ländern. Für ihr Werk erhielten die Afghaninnen den deutschen Preis der Autorenstiftung.
Keine gemeinsame Sprache, dafür Respekt und Empathie
Jetzt, wo endlich alle in Deutschland sind, geht es nicht mehr um ein Leben in Angst, die Herausforderungen sind andere geworden. Wie spielt man zusammen Theater, wenn man nicht mal eine Sprache teilt?
Besonders am Anfang gehörten Übersetzer-Apps quasi schon zur Crew. Kula-Mitglieder übersetzen außerdem untereinander, von den vielen Einzelsprachen nach Englisch, von Englisch nach Deutsch. Auch bei der Entwicklung der Drehbücher sind die Schauspielerinnen und Schauspieler stark eingebunden und schreiben selbst Passagen – ebenfalls immer in ihren Muttersprachen. Damit alle alles nachvollziehen können, gleichen die Skripte eher einer Partitur, sind sehr lang und in mehrere Sprachen übersetzt.
Ganz nebenbei bringen sich die Mitglieder auch gegenseitig ihre Sprachen bei. Viele Worte haben es in den allgemeinen Sprachgebrauch der ganzen Gruppe geschafft. „Khallas!“, sagt ein deutscher Schauspieler – arabisch für „Es reicht!“ Auf englische Regieanweisungen antwortet Rezaie oft mit: „Ach so.“

© Katharina Köhler
Dort, wo die Gesellschaft sprachlos ist, kommen wir mit vielen Sprachen.
Robert Schuster, Gründer der Kula Compagnie und Professor für Regie
Obwohl sie aus völlig unterschiedlichen Lebensrealitäten kommen, haben die Mitglieder der Kula Compagnie es geschafft, zu einer Gruppe zusammenzuwachsen. Inzwischen haben sie etwa eine gemeinsame Spotify-Liste, in der sie einander Musik zeigen: Yemen Blues und Stromae findet man hier, die Beatles und A-WA, Ton Steine Scherben und taiwanischen Rap. Oft kochen die Mitglieder auch zusammen Rezepte aus ihren verschiedenen Heimatländern.
Aufführung in der Akademie der Künste
Mit ihrem transnationalen Konzept haben sie es gemeinsam auch auf internationale Bühnen geschafft, waren für ihre Gastspiele unter anderem in Norwegen, Serbien, Italien, China und Frankreich – teils über lokale Häuser, teils über Institutionen wie das Goethe-Institut. Bei ihrem letzten Gastspiel in Israel führten sie ihre Neuinterpretation von „Der Dibbuk“ auf, die sie am Samstag auch in der Berliner Akademie der Künste auf die Bühne bringen.
Das Gastspiel in Israel hatten sie schon vor Jahren geplant. Der 7. Oktober 2023 warf die Pläne, mit unterschiedlicher Besetzung einen Teil des Stücks in Israel und einen in Bagdad zu spielen, über Bord. Eine Weile lang hielten sich Ensemblemitglieder sogar zeitgleich in Israel und Iran auf – während beide Länder sich gegenseitig beschossen.
Nun, gemeinsam in Deutschland, geht es ihnen darum, trotz aller Krisen und Polarisierung das Leid der anderen anzuerkennen, ohne dabei eigenes Leid zurückzustellen. So erzählen es Mitglieder der Gruppe.
„Natürlich kann man sagen: Es ist doch gut, dass wir kochen und nicht schießen“, sagt Robert Schuster. Doch die eigentliche Herausforderung sieht er darin, in Respekt voreinander auch aufkommende Konflikte zuzulassen und auszuhalten – und zwar gerade auch bei hoch emotional besetzten Themen wie etwa dem Nahostkonflikt. „Dort, wo die Gesellschaft sprachlos ist, kommen wir mit vielen Sprachen“, fasst Robert Schuster zusammen.

© Katharina Köhler
Auf ihre israelischen Kollegen und Kolleginnen angesprochen, sagt Rezaie: „Sie sind sehr, sehr nette Menschen.“ Sie denke nicht an die israelische Regierung, wenn sie mit ihnen Zeit verbringe. „Ich denke nur: Sie sind meine Familie.“
Obwohl es klingen mag wie eine Utopie, die einen dauerhaften Kraftakt erfordert, findet die Kula Compagnie ganz selbstverständlich ihre Wege und zeigt im kleinen Labor, womit sich die große Gesellschaft zunehmend schwertut: dass man einander schätzen kann, voneinander lernen kann, Großes zusammen meistern kann und dabei allen Gegensätzen trotzen kann. Die Gruppe begreift ihre vielen Sprachen und Hintergründe nicht als Hindernis, sondern als große Stärke.
Tahera Rezaie ist heute 31 Jahre alt, lebt und arbeitet in Frankfurt am Main. Sie ist allein, ihre Familie ist noch immer in Iran. Wenn sie morgens aufwacht, dann weint sie oft. Sie sei traumatisiert, sagt sie und lacht. Bei der Probe auf der Bühne fällt all das von ihr ab, sie wirkt befreit, macht Witze. Die Kula Compagnie gibt ihr Halt. Trotzdem: Sie hofft eines Tages wieder zurückkehren zu können. Nach Hause – in ein Afghanistan ohne Taliban.