Das Dilemma der FDP zeigt sich an diesem Tag gewissermaßen bereits im Ort. Die Liberalen begehen ihren 76. Bundesparteitag nämlich im Estrel, gelegen in einem Industriegebiet in Berlin-Neukölln.
Wenn hier nicht gerade gebeutelte Parteien tagen, ist das schmucklose Tagungshotel für die Reihe „Stars in Concert“ bekannt, bei der Auftritte von internationalen Musikstars imitiert werden: Madonna, Elvis, Tina Turner.

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Und ja, auch die FDP läuft gerade Gefahr, nach einer Kopie zu suchen. Denn der wichtigste Mann an diesem Freitag ist einer, der geht.
Gut zwei Minuten badet Christian Lindner schon vor seiner Abschiedsrede als FDP-Vorsitzender im Applaus, erntet stehende Ovationen. Dabei geht es hier, daran muss man sich zwischenzeitlich selbst erinnern, gar nicht um ihn.
Partei am Abgrund
Sondern um eine Partei, die sich im Überlebenskampf befindet. Nach ihrem Debakel bei der jüngsten Bundestagswahl, als sie mit 4,3 Prozent aus dem Parlament flog, steht die FDP am Abgrund. In Umfragen kleben die Liberalen bei rund drei Prozent, ihre Inhalte scheinen die Menschen im Land sich nicht so recht zu interessieren. Es muss also dringend etwas passieren.

© dpa/Bernd von Jutrczenka
Und genau dabei sollte dieser Parteitag eigentlich Abhilfe schaffen: Christian Dürr, Lindner-Vertrauter und ehemaliger Fraktionschef, sollte den Wiederaufbau nach der Stunde null starten.
Stattdessen liegt jedoch eine bange Frage in der Luft: Reicht das, was die FDP ohne das alte Zugpferd anzubieten hat, für einen Neustart?
Die alte Führung hat versagt, das kann sie sich auch gerne mal eingestehen.
Berliner FDP-Delegierte Karoline Preisler während des Parteitags
Zumindest optisch geben sich die Liberalen alle Mühe: „If life gives you lemons, make lemonade“, prangt in mannsgroßen Lettern über der Bühne. Das soll wohl Selbstironie und Aufbruch zugleich symbolisieren.
Doch die zur Schau gestellte Lockerheit kann an diesem Tag nicht darüber hinwegtäuschen, wie viel Arbeit noch vor der Partei liegt. Das zeigt sich allein im Klärungsbedarf, den ihre Mitglieder haben.
Mehr als 60 Redebeiträge gibt es während der Aussprache. Es sind dabei vor allem die Jüngeren, die teils hart mit der Partei abrechnen. Sie kritisieren das Gebaren der Liberalen in der Ampel, ihre Blockadehaltung, die FDP-Pur-Mentalität.
„Ich möchte nicht Mitglied einer Protestpartei sein, die jedes Mal zusammenbricht, wenn sie in Kontakt mit der Realität kommt“, sagt aber auch Konstantin Kuhle, immerhin zuletzt Vize-Fraktionschef im Bundestag. „Die alte Führung hat versagt“, schimpft hingegen die Berliner FDP-Frau Karoline Preisler. „Und das kann sie sich auch gerne mal eingestehen.“
Unterschied nur im Nachnamen
Doch das tut sie nicht. Ob Wolfgang Kubicki, Marie-Agnes Strack-Zimmermann oder Ex-Generalsekretär Marco Buschmann: Die Parteigranden zeigen sich einig, dass die Lage zwar doof sei, aber man jetzt nicht alles umwerfen müsse. „Nicht alles, was wir gemacht haben, war ein Fehler“, sagt etwa Buschmann.
Das ist verständlich, schließlich haben sie die Misere mitzuverantworten. Hört man sich unter Spitzenliberalen um, verweisen sie darauf, dass es doch kontraproduktiv sei, einer verunsicherten Partei jetzt noch weiter auf die Zwölf zu geben.
Doch es wird Dürrs Aufgabe sein, diese Bruchlinien zu kitten. Allein: kann er das? Ja, sagen die einen, schließlich habe er bewiesen, Brücken bauen zu können. Nein, entgegnen die anderen, denn ihn unterscheide von Lindner bloß der Nachname, wie er selbst im März sagte.
Es kann nicht sein, dass man alle Überzeugungen über Bord wirft.
FDP-Vorsitzender Christian Dürr
Letztlich hält sich der offene Protest in Grenzen, Dürr wird mit 82 Prozent zum neuen Vorsitzenden gewählt. Und macht sogleich klar, dass man sich unter seiner Führung keine allzu großen Hoffnungen auf eine Kernsanierung machen sollte: „Ja, wir haben eine Bundestagswahl verloren“, sagt er am frühen Abend. „Aber es kann nicht sein, dass man alle Überzeugungen über Bord wirft.“

© dpa/Bernd von Jutrczenka
Man könnte auch sagen: Erneuerung gibt es mit ihm nur in handelsüblichen Mengen. Immerhin stößt er die Erarbeitung eines neuen Grundsatzprogramms an. Das aktuelle stammt aus dem Jahr 2012. Die FDP, sagt er, habe Zitronen geliefert bekommen. „Ich will, dass wir daraus 1000 Liter feinster Limonade machen.“
Sein Team steht jedoch bestenfalls in Teilen für Fortschritt, es wurde ganz nach Dürrs Vorstellungen zusammengestellt. Er will keine Proporze, sondern Sachverstand und Harmonie. Henning Höne aus Nordrhein-Westfalen wird Vize, ebenso Svenja Hahn, die für die Liberalen im Europaparlament sitzt – und Wolfgang Kubicki. Ganz ohne den Veteranen scheint es dann doch nicht zu gehen, irgendjemand muss ja die Talkshows bespielen.
Daneben sollen Strack-Zimmermann, Hans-Ulrich Rülke, Lydia Hüskens, Daniela Schmitt und der Lindner-Vertraute Florian Toncar ins Präsidium einziehen werden – auch wenn ihre Wahl aus Zeitgründen erst am Samstag stattfinden kann.
Designierte Generalsekretärin ist Nicole Büttner, seit 20 Jahren FDP-Mitglied und erfolgreiche KI-Unternehmerin. Eine Frau aus der Wirtschaft also. Dürr habe darin einen Coup gesehen, heißt es, ein Signal.
Blöd nur, dass Friedrich Merz in der Zwischenzeit gleich drei Wirtschaftsleute in sein Kabinett geholt hat.