Was bleibt von diesem Gedenktag, 80 Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs? Im Mittelpunkt: Die lange und sorgsam vorbereitete Rede eines Bundespräsidenten, der ein Stück weit gemessen wird an einem Vorgänger, den er selbst zitiert.
Hätte Richard von Weizsäcker heute eine solche Rede gehalten und würde sie so aufgenommen wie damals, würden Passagen jetzt von Handy zu Handy geschickt – die Menschen im Land würden darüber diskutieren.
1985 wurden zwei Millionen Exemplare dieser Rede gedruckt und der Text in 13 Sprachen übersetzt. Von Weizsäcker etablierte ein neues Selbstverständnis der Deutschen: der 8. Mai wurde zum Tag der Befreiung.

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Heute stehen die Republik und mit ihr ihre Repräsentanten vor großen Herausforderungen. Teils sogar an der Spitze der Umfragen steht eine Partei, die vom Verfassungsschutz als gesichert rechtsextremistisch eingestuft wird.
Groß waren also die Erwartungen, vielleicht unfairerweise. Ein Team kann versuchen, eine historische Rede zu schreiben. Ist sie einmal gehalten, kann es ihre Rezeption nicht mehr beeinflussen. Was also bleibt?
Klöckners Rede bleibt fassbarer als Steinmeiers
Viele Passagen der Steinmeier-Rede eignen sich bestens, um in Geschichtsbüchern abgedruckt zu werden. In Online-Medien dürfte sie weniger geteilt werden. Bis an den Stammtisch dürfte sie es vermutlich in den wenigsten Orten schaffen. Dabei war Steinmeier alles andere als zurückhaltend.
Sehr konkret benennt er direkt vor der AfD-Fraktion deren Geschichtsrevisionismus, scheut den Konflikt nicht. Fassbarer bleibt dennoch die kürzere Rede der Bundestagspräsidentin, die den Ort, das Fassbare einbezieht, Bilder zeichnet.
Julia Klöckner (CDU) spricht einfacher, verständlicher, direkter, verweist wie Weizsäcker auf das Schicksal der Frauen und sagt zentrale Sätze wie: „Das ungeheuerliche Ausmaß der deutschen Verbrechen, das ist bis heute nicht allen bewusst, oder schlimmer noch, viele wollen sich damit gar nicht mehr beschäftigen.“

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Da hat sie recht und das ist wichtig – nur auf eine ehrliche Bestandsaufnahme kann eine sinnvolle Lösung folgen. Klöckner schließt mit einem kraftvollen Appell: „Wer befreit wurde, der ist auch verpflichtet zu verteidigen – die Freiheit.“
Auch Steinmeier plädiert dafür. Mit Blick auf die USA fordert er Freiheit zu verteidigen, gerade wenn andere sie einschränkten.
Dem neuen Kanzler und seinem Außenminister dürfte Steinmeier jedoch möglicherweise einen Bärendienst erwiesen haben, indem er mit dem Begriff vom doppelten Epochenbruch Russlands Angriffskrieg und die US-Politik auf eine Stufe stellt. Sicher: Dass die Trump-Regierung geltendes Recht sowie Gerichtsurteile ignoriert, ist ein Angriff auf die Demokratie. Aber wem nützt dieser Vergleich?
Steinmeiers schiefer „Kinder“-Begriff
Schief bleibt auch der Begriff der „Kinder des 8. Mai“. Ein Habermas-Zitat mag intellektuell klingen. In der Rede wirkt es jedoch schief.
Der Philosoph selbst wird im nächsten Monat 96 Jahre alt. Vor Steinmeier sitzen an diesem Tage ernst blickende Erwachsene, von denen ein Teil mit den Errungenschaften der Demokratie hadert, keine Kinder. Botschafter oder Zeugen hätte Steinmeier sie nennen können.
Zu kurz kommt zudem der Blick nach ganz links. Zwar sprechen die Linken-Chefs offiziell von einem „historischen Sieg für die Menschlichkeit“ am 8. Mai, von Verantwortung und Antifaschismus. Auf der Tribüne im Bundestag sitzt die ehemalige Bundestagsvizepräsidentin Petra Pau (Linke) neben dem Präsidenten des Zentralrats der Juden, Josef Schuster.
Doch nur zwei Tage zuvor postete Linken-Vorstandsmitglied Ulrike Eifler bei „X“ ein Bild, das impliziert, der gesamte Staat Israel solle einem Staat Palästina weichen.
Fazit: Wenn die Gedenkstunde im Gegensatz zu der vor vierzig Jahren den Diskurs schon mutmaßlich nicht verändern wird, wäre es sinnvoll, wenn zumindest im Kreise der Anwesenden jeder vor der eigenen Haustür kehrte und die Appelle des Bundespräsidenten und der Bundestagspräsidentin ernst nähme. Dazu gehören auch Linke, die von Verantwortung sprechen, und Rechte, die sich als Demokraten verstehen.