Dass Trainer im modernen Fußball Kenntnisse in diversen Fachgebieten – unter anderem Pädagogik, Sportmedizin oder Psychologie – benötigen, das ist inzwischen weitgehend bekannt. Insofern war es vermutlich gar nicht so ungewöhnlich, als Julian Nagelsmann am Sonntag, nach dem 3:1-Sieg der deutschen Fußball-Nationalmannschaft gegen Nordirland, zum Thema Onychophagie vernommen wurde.
Onychophagie ist die wissenschaftliche Bezeichnung für das Phänomen des Nägelkauens.
Bundestrainer Nagelsmann war am Sonntag beim WM-Qualifikationsspiel in Köln von den Fernsehkameras dabei eingefangen worden, wie er in der Coaching Zone am Spielfeldrand mit den Schneidezähnen seine Fingernägel malträtierte. Dieses Bild passte natürlich perfekt zur allgemeinen Stimmung rund um die Nationalmannschaft im September 2025. Da steht wohl einer schon ganz schön unter Druck!
Laut Wikipedia kommt Onychophagie bei unruhigen, leicht erregbaren und überängstlichen Personen vor. Als Ursachen gelten Stress, Nervosität und Verhaltensstörungen. Neueren wissenschaftlichen Erkenntnissen zufolge kann Nägelkauen aber auch ein Ausdruck von Perfektionismus sein.
Wir sind einfach nicht so stabil, dass wir die Leistung konstant abrufen können.
Nationalspieler Leon Goretzka
„Nägelkauen tu ich leider schon zu lange“, gestand Nagelsmann nach dem Spiel. Bereits in seiner Zeit beim FC Issing in der F-Jugend sei das vorgekommen, und da hatte er definitiv noch keinen Druck. „Es ist kein Zeichen, dass ich supernervös bin“, sagte Nagelsmann. „Es ist meistens, dass ich über etwas nachdenke und versuche, Lösungen zu finden.“
Wie schon drei Tage zuvor bei der ernüchternden 0:2-Niederlage gegen die Slowakei zum Auftakt der WM-Qualifikation, so sah sich der Bundestrainer auch im Spiel gegen die Nordiren von seinem Team wieder vor die eine oder andere Denksportaufgabe gestellt. Nach einem durchaus feurigen Beginn und einem frühen Führungstor durch Serge Gnabry geriet das deutsche Team ab Mitte der ersten Hälfte mehr und mehr in die Defensive und kassierte schließlich sogar den Ausgleich der Nordiren.
In dieser Phase war „schon ein bisschen Verunsicherung zu spüren“, befand Nagelsmann. „Finde ich aber menschlich und finde ich auch ein Stück weit normal nach dem, was am Donnerstag passiert ist.“ Die Dämonen aus dem Spiel gegen die Slowakei meldeten sich zurück und mit ihnen die Zweifel, die zuletzt ohnehin ein ständiger Begleiter der Nationalelf waren.
„Wir sind einfach nicht so stabil, dass wir die Leistung konstant abrufen können“, sagte Mittelfeldspieler Leon Goretzka, der in der zweiten Hälfte eingewechselt wurde, als die Deutschen das Spiel dank einer deutlichen Leistungssteigerung und mit zwei Toren binnen drei Minuten letztlich doch noch auf ihre Seite rangen. „Heute ging es natürlich um das Ergebnis“, erklärte Kapitän Joshua Kimmich. „Es bringt ja nichts, wenn du eine Reaktion zeigst und am Ende 1:1 spielst.“
Nagelsmann nahm großflächige Veränderungen vor
So wie die Mannschaft dem Bundestrainer, so stellte auch der Bundestrainer dem Publikum wieder die eine oder andere Denksportaufgabe. Nach dem Auftritt in der Slowakei nahm er gleich fünf Wechsel vor. Kimmich blieb im defensiven Mittelfeld, an seiner Seite spielte nun Pascal Groß. Zudem veränderte Nagelsmann die Grundordnung und ließ sein Team mit einer Dreierkette verteidigen. Die rechte Schiene, Deutschlands Problemzone, besetzte er mit Jamie Leweling, der eher in der Offensive zu Hause ist.
Die Aufstellung des Bundestrainers war eine Herausforderung für das Publikum, das sich insgeheim nach Klarheit und Verlässlichkeit sehnt. Eine Mannschaft braucht doch ein klares Gerüst. Eine Mannschaft muss sich doch einspielen. „Die Gedanken kann ich alle nachvollziehen“, sagte Nagelsmann. „Generell versuchen wir schon auch, uns einzuspielen.“
Und trotzdem verfolgt er – fast schon trotzig – einen anderen Ansatz. „In meiner Denkweise kannst du einfach nicht gegen jeden Gegner dasselbe Personal auf dem Feld haben“, sagte der Bundestrainer. In der Formel 1 fahre man schließlich auch nicht immer mit denselben Reifen.
„Es macht keinen Sinn, zwei Eins-Sechzig-Sechser zu haben, wenn der Gegner nur auf zweite Bälle geht“, erklärte Nagelsmann. „Und es macht keinen Sinn, einen Abräumer zu haben, wenn du 90 Prozent Ballbesitz erwartest.“ Defensiv habe man sich schon immer dem Gegner angepasst – weil es einfach sinnvoll sei, „da zu verteidigen, wo der Gegner sich befindet“.
Die aktuellen personellen Gegebenheiten befeuern diese seine Haltung noch. Weil vier Spieler aus seiner potenziellen Stammelf fehlen, sieht sich der Bundestrainer ohnehin zur Improvisation gezwungen. Zudem will er der mentalen Erschlaffung innerhalb seines Teams vorbeugen: „Wenn ich jetzt festlege, wer auf jeder Position die WM spielt, verlieren wir auch Spannung.“
Sich die nötige Flexibilität bewahren bei möglichst großer Stabilität der Mannschaft: Daran versucht sich Nagelsmann derzeit. „Da gibt’s nicht diesen heiligen Weg. Auch wenn das jeder gerne sehen würde“, erklärte er. Vier Spiele in der Qualifikation bis zum Ende dieses Jahres und – sofern die Mannschaft ihre Gruppe auf Platz eins beendet – zwei Testspiele im März bleiben Julian Nagelsmann noch, ehe die WM-Vorbereitung beginnt. „Wir kriegen das schon hin“, sagte er.