Bundeskanzler Friedrich Merz will einem Medienbericht zufolge als Teil der angekündigten Migrationswende die „nationale Notlage“ ausrufen. Wie „Welt“ berichtet, soll der CDU-Chef den Artikel 72 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union aktivieren wollen. Damit würde das Dublin-Abkommen außer Kraft gesetzt werden, heißt es.
Konkret wären demnach mehr Zurückweisungen von Asylbewerbern und Kontrollen an den Grenzen möglich. Allerdings dementierte Regierungssprecher Stefan Kornelius den Bericht gegenüber „Bild“ umgehend.
„Welt“ wiederum schreibt, die Botschafter der Nachbarstaaten seien am Nachmittag über die Pläne unterrichtet worden. Wann die Notlage inkrafttreten soll, sei noch unklar.
Artikel 72 räumt Mitgliedsstaaten ein, von einigen EU-Regelungen abzuweichen, wenn etwa die öffentliche Ordnung oder die innere Sicherheit gefährdet ist. Fraglich ist, ob die Bundesregierung das in dem Fall darf.
Die rechtliche Lage bei Zurückweisungen an der Grenze ist derzeit nicht eindeutig. Einige Experten lesen geltendes EU-Recht so, dass Zurückweisungen grundsätzlich nicht erlaubt sind. Dies hängt auch damit zusammen, dass Grenzkontrollen praktisch nicht exakt auf der Grenzlinie erfolgen, sondern oft etwas dahinter.
Darüber war im Februar bereits ein heftiger Streit zwischen Ampel-Regierung und der damaligen Opposition ausgebrochen. Das letzte Wort könnte der Europäische Gerichtshof haben.
Schärfere Grenzkontrollen
Bundesinnenminister Alexander Dobrindt (CSU) hatte am Mittwoch bereits angekündigt, die Grenzen schärfer kontrollieren zu lassen. Wenige Stunden nach seinem Amtsantritt teilte er mit, künftig sollten auch Asylsuchende an der Grenze zurückgewiesen werden können. Dies soll allerdings nicht für Schwangere, Kinder und andere Angehörige vulnerabler Gruppen gelten. Er erwähnte dabei auch den besagten Artikel 72.
Am Donnerstag liefen in den ersten Bundesländern bereits verstärkte Kontrollen an. In Bayern etwa kontrolliert die Bundespolizei ab sofort die Grenzen zu Österreich und Tschechien stärker. Das wird nach Angaben eines Sprechers für Reisende wahrnehmbar sein. Auch an den sächsischen, niedersächsischen und nordrhein-westfälischen Außengrenzen sind laut Bundespolizei zusätzliche Beamte im Einsatz. In Rheinland-Pfalz und im Saarland sollen die Kontrollen in Kürze anlaufen. Aus der Opposition und dem Ausland kam Kritik an den strengeren Regeln.
Das Präsidium der Bundespolizei erklärte, „Maßnahmen zur temporären Kräfteintensivierung“ würden stetig geprüft und umgesetzt. Zu konkreten Einsatzstärken werde man sich nicht äußern.
Kanzleramtschef Frei weist Befürchtungen zurück
Kanzleramtschef Thorsten Frei (CDU) wies Befürchtungen zurück, dass die verschärften deutschen Grenzkontrollen nun zum Dauerzustand werden. Man ergreife jetzt Maßnahmen, weil es bislang nicht gelinge, die EU-Außengrenzen wirksam zu schützten, sagte Frei auf dem Ludwig-Erhard-Gipfel am Tegernsee. „Aber wir sind uns im Klaren darüber, dass es kein dauerhaftes Ziel sein kann, dass wir wieder Binnengrenzkontrollen in Europa haben. Das widerspricht auch unseren Vorstellungen von Schengen, einem grenzenlosen Europa und vielem anderen mehr“, betonte Frei.
Zudem sagte der Kanzleramtschef, die Verschärfung der Grenzkontrollen sei mit den europäischen Nachbarstaaten abgesprochen. Bundesinnenminister Dobrindt sei im Gespräch mit den Nachbarn gewesen, nicht nur auf der Botschafter-Ebene im Ministerium. „Und deswegen ist auch die Voraussetzung erfüllt, nämlich dass wir in Absprache mit unseren Nachbarländern diese Maßnahmen ergreifen.“
Grünen-Chefin: Beamte fehlen dann an Kriminalitätsschwerpunkten
Grünen-Chefin Franziska Brantner kritisierte hingegen eine fehlende Zusammenarbeit mit den Nachbarländern. „In Zeiten, in denen wir mehr Europa brauchen, wir erinnern gerade diese Woche daran, aus welchen kriegerischen Zuständen wir in Europa kommen und wir zum Glück Frieden haben, ist es nicht akzeptabel, nicht besonders gut, wenn man nicht mit den Partnern gemeinsam handelt“, sagte sie im RTL/ntv-„Frühstart“.
Sie bemängelte zudem, dass die Beamten anderswo abgezogen würden. „Das sind die Hauptbahnhöfe, das ist der Flughafen, das sind Kriminalitätsschwerpunkte in diesem Land. Dort werden die fehlen. Also ein Weniger an Sicherheit an anderen Orten für ein Signal an der Grenze.“

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Die Grünen-Politikerin Irene Mihalic hält die Maßnahmen nicht für rechtskonform. „Pauschale Zurückweisungen von Asylgesuchen an den Grenzen sind schlicht europarechtswidrig und stellen die Zusammenarbeit mit unseren Nachbarländern grundsätzlich in Frage“, sagte die Erste Parlamentarische Geschäftsführerin der Grünen-Fraktion im Bundestag dem Redaktionsnetzwerk Deutschland.
Schweiz: Systematische Zurückweisungen verstoßen gegen Recht
Auch aus Polen und der Schweiz kam Kritik. „Systematische Zurückweisungen an der Grenze verstoßen aus Sicht der Schweiz gegen geltendes Recht“, schrieb das Schweizer Justizministerium anschließend auf der Plattform X. Die Schweizer Behörden „prüfen gegebenenfalls Maßnahmen“. Auch das Innenministerium in Wien pochte auf die Einhaltung des geltenden EU-Rechts. Generell begrüße Österreich aber die Bestrebungen Deutschlands im Kampf gegen die Schleppermafia und illegale Migration, hieß es.
Polens Regierungschef Donald Tusk hatte die Migrationspolitik der neuen Bundesregierung beim Antrittsbesuch von Bundeskanzler Friedrich Merz (CDU) scharf kritisiert. „Deutschland wird in sein Gebiet lassen, wen es will. Polen wird nur in sein Gebiet lassen, wen es akzeptiert“, sagte Tusk am Mittwoch in Warschau. Es solle weder der Eindruck entstehen noch die Fakten geschaffen werden, dass irgendwer einschließlich Deutschlands bestimmte Gruppen von Migranten nach Polen schicke.
Die Deutsche Polizeigewerkschaft (DPolG) sieht hier indes Klarheit. Deutschland habe mit sämtlichen Anrainerstaaten sogenannte Rückübernahme-Vereinbarungen vertraglich geregelt, sagte der stellvertretende Vorsitzende Heiko Teggatz der „Welt“. Inhalt dieser Verträge sei auch, ab welchem Zeitpunkt eine Person als eingereist gilt. „Dieses ist erst dann der Fall, wenn die Einreisekontrolle abgeschlossen ist. Auf welchem Hoheitsgebiet die Kontrollstelle liegt, spielt dabei keine Rolle.“ (Tsp, dpa)