Mit einer Vielzahl neuer Modelle will die deutsche Autobranche die an diesem Dienstag beginnende Automesse IAA zum Befreiungsschlag nutzen. Denn Volkswagen, Mercedes und BMW sind unter Druck. Auf den drei wichtigsten Automärkten – Europa, USA und China – ist der zusammengerechnete Marktanteil der deutschen Hersteller erstmals seit Jahrzehnten unter die Marke von 20 Prozent gefallen. Das zeigen exklusive Auswertungen des „Handelsblatts“ von Zahlen der Datenanbieter Dataforce und Marklines.
Die ganze deutsche Autoindustrie investiert mit Blick auf die Zukunft so viel wie nie zuvor.
Mercedes-Chef Ola Källenius
Eine neue Generation an Elektroautos, die die Konzerne in München vorstellen, soll nun für neue Stärke sorgen. BMW zeigt mit dem iX3 das erste Serienfahrzeug der Elektroplattform „Neue Klasse“. Mercedes präsentiert den Elektro-SUV GLC auf der neuen Plattform „MB.EA“. Volkswagen zeigt mit dem ID.Polo und dem Schwestermodell ID.Cross erstmals bezahlbare Elektro-Kleinwagen, und die Premium-Tochter Audi gibt mit dem Concept C einen Ausblick auf das neue Design.
„Mercedes und die ganze deutsche Autoindustrie investieren mit Blick auf die Zukunft so viel wie nie zuvor“, sagte Mercedes-Chef Ola Källenius am Sonntag. Die Aufbruchstimmung in der Branche sei hoch.
Söder will EU-Verbrennerverbot kippen
CSU-Chef Markus Söder hat seine Forderung erneuert, das ab 2035 geplante EU-weite Verbot neuer Autos mit Verbrennungsmotoren zu kippen. Damit will der bayerische Ministerpräsident die kriselnde deutsche Autoindustrie stützen. „Der Verbrenner hat mit E-Fuels und neuen Technologien Zukunft. Das EU-Verbrennerverbot 2035 gefährdet Hunderttausende Arbeitsplätze“, sagte Söder der „Bild am Sonntag“. Das Auto werde zur Schicksalsfrage der deutschen Industrie. „Es ist das Herz unserer Volkswirtschaft – ohne Auto droht ein Kollaps.“
Die Vorsitzende der Grünen-Bundestagsfraktion, Katharina Dröge, zeigt sich zwar prinzipiell offen für eine geringfügige Verschiebung des Verbots. Problematisch sei aber die Forderung nach einer gänzlichen Abschaffung, sagte sie im ARD-„Bericht aus Berlin“. Söder mache sich damit zum „Totengräber der deutschen Automobilindustrie“.
Bundeskanzler Friedrich Merz (CDU) hatte jüngst angekündigt, dass er die deutschen Autobauer und ihre Zulieferer zu einem Dialog zur Zukunft der Autoindustrie einladen will. (dpa)
Volkswagen-Chef Oliver Blume sagte: „Die IAA ist ein ganz wichtiges Zeichen für die deutschen und europäischen Autobauer, für unseren Kontinent, aber auch für die Welt, um zu zeigen, welche Leistungsfähigkeit wir haben.“ Da wolle Volkswagen wichtige Impulse setzen. Und BMW-Chef Oliver Zipse kündigte zur Vorstellung des iX3 an: „Wir führen BMW in eine neue Ära.“
Das Ende der globalen Vormachtstellung droht
Der Druck, dass das gelingt, ist groß. Verkaufen sich die kommenden Elektroautos genauso schlecht wie die erste Modellgeneration, droht das Ende der globalen Vormachtstellung der deutschen Autokonzerne.
Von den etwa 1,2 Millionen Jobs in der heimischen Leitbranche sind infolge hoher Zölle, ausufernder Kosten und geopolitischer Spannungen 150.000 bis 220.000 Stellen bis 2030 in Gefahr. Das schätzt die Strategieberatung Oliver Wyman in einer bisher unveröffentlichten Studie, die dem „Handelsblatt“ vorliegt.
Die Beratung McKinsey wiederum prognostiziert in einer aktuellen Studie: „Durch den Übergang zur Elektromobilität und softwarebasierten Fahrzeugen, ungünstige Standortbedingungen sowie neue Wettbewerber und Handelsbedingungen könnten bis 2035 bis zu einem Drittel der Wertschöpfung der Industrie – 440 Milliarden Euro – auf dem Spiel stehen“, schreiben die Experten von McKinsey.
Erste Elektro-Generation der deutschen Hersteller durchgefallen
Dass die deutschen Hersteller auf der IAA 2025 zur Aufholjagd gezwungen sind, liegt an der ersten Modellgeneration ihrer Elektroautos. Anfang der 2020er-Jahre hatte Volkswagen die ID-Reihe gestartet, mit Modellen wie dem ID.3 und dem ID.4. Die Tochtermarke Audi legte die e-tron-Modelle auf. Mercedes versuchte mit den EQ-Modellen im Elektromarkt Fuß zu fassen, BMW mit den elektrischen i-Modellen.

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Mit der ersten Generation fielen die Hersteller bei ihrer Kundschaft größtenteils durch. Die Autos konnten entweder optisch oder technologisch nicht überzeugen. Sie hatten zu wenig Reichweite und luden zu langsam. Sie waren zudem deutlich teurer als vergleichbare Verbrenner-Modelle. Prestigemodelle wie die elektrischen Luxuslimousinen Mercedes EQS und BMW i7 verkaufen sich schlecht. Nach dem Wegfall der Elektro-Kaufprämie in Deutschland Ende 2023 erlebte die Branche eine Elektro-Flaute im größten Einzelmarkt Europas.

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Gleichzeitig konnten sich VW, Mercedes und BMW in China, dem größten Elektroautomarkt der Welt, nicht gegen die starke heimische Konkurrenz und US-Hersteller Tesla durchsetzen. Die Folge: Im weltweit wachsenden Elektroautomarkt verlieren die deutschen Hersteller deswegen zusammengerechnet Marktanteile.
Während VW, BMW und Mercedes zusammengenommen auf den drei wichtigsten Automärkten der Welt im Coronajahr noch auf einen Elektro-Marktanteil von rund 14 Prozent kamen, rutschte dieser im vergangenen Jahr auf 12,3 Prozent ab. Im laufenden Jahr konnten die Hersteller den Anteil wieder leicht auf 12,8 Prozent erhöhen. Gestützt werden die Verkäufe aber vor allem vom europäischen Markt, wo Tesla zuletzt massiv Marktanteile verloren hat.

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Das hat Folgen für die Bilanzen der Unternehmen. Die Gewinne von VW, Mercedes und BMW sind im ersten Halbjahr 2025 auf ein bedenkliches Niveau abgerutscht.
BMW verzeichnete im ersten Halbjahr einen Gewinnrückgang von mehr als 26 Prozent, Mercedes sogar von fast 60 Prozent. Volkswagen verdiente rund 39 Prozent weniger. Beim Sportwagenbauer Porsche brach der Gewinn im zweiten Quartal sogar um über 90 Prozent ein.
Milliardeninvestitionen für neue Plattformen
Fabian Brandt, Deutschlandchef der Strategieberatung Oliver Wyman, sieht die deutschen Hersteller unter Zugzwang. „Die deutschen Autobauer müssen jetzt handeln, wo ihre Kassen noch gut gefüllt sind. Sonst drohen sie in eine Situation wie viele Zulieferer zu geraten, denen das Kapital für eine Transformation aus eigener Kraft fehlt“, sagt er.
Bis vor Kurzem hatten die Hersteller noch prächtig verdient. Vor allem während der Coronapandemie, als das Fahrzeugangebot wegen kriselnder Lieferketten sank und die Preise stiegen, verzeichneten BMW, Mercedes und VW hohe Gewinne. Mit einem Teil dieser Einnahmen haben die Autohersteller die Investitionen in die neuen Plattformen finanziert.
Allein die Entwicklung der Neuen Klasse hat BMW-Konzernkreisen zufolge deutlich mehr als zehn Milliarden Euro gekostet. Zudem hat BMW für die Neue Klasse rund zwei Milliarden Euro in eine neue Fabrik in Ungarn investiert. Der VW-Konzern wird im Rahmen des Fünfjahres-Investitionsplans über 100 Milliarden Euro in die Elektromobilität und Softwareentwicklung investieren. Mercedes nennt keine konkrete Zahl.
Wegen der enormen finanziellen Vorleistung sind die Neue Klasse von BMW, die MB.EA-Plattform von Mercedes und die bezahlbaren Elektroautos von VW zum Erfolg verdammt. Auch Führungskräfte und Betriebsräte bei Mercedes sehen keine Alternativen. Nachdem die Elektroautos der ersten Generation gefloppt sind, müsse der neue Elektro-GLC funktionieren, heißt es aus dem Umfeld von Mercedes. Wird das Modell ein Ladenhüter, könnte Konzernchef Ola Källenius wackeln. „Wenn das jetzt nicht funktioniert: Gott behüte!“, sagt ein Mercedes-Manager.
Im Falle eines Misserfolgs dürften die Hersteller nicht mehr in der Lage sein, nochmals derartige Summen in die Entwicklung zu pumpen. Der Stellenabbau in diesem Jahr bei den deutschen Autoherstellern, allen voran die 35.000 Arbeitsplätze bei VW, dürfte dann nur der Anfang gewesen sein.
Fortschritte bei Ladegeschwindigkeit und Software
Brandt sieht die deutsche Autoindustrie mit ihren neuen Plattformen immerhin auf einem guten Weg. „Sie können technologisch wieder mitschwimmen“, sagt er.
BMW, Mercedes und Audi haben ihre neuen Elektroautos mit einem 800-Volt-System ausgestattet und sind damit Branchenprimus Tesla überlegen, dessen Fahrzeuge nach wie vor auf einem 400-Volt-System basieren. Dank des 800-Volt-Systems lassen sich die Elektrofahrzeuge der deutschen Hersteller deutlich schneller laden. Der BMW iX3 kann innerhalb von zehn Minuten eine Reichweite von 370 Kilometern laden, beim Mercedes GLC sind es rund 300 Kilometer.
Auch bei der Elektronikarchitektur und der Software machen die deutschen Hersteller Fortschritte. Lange Ladezeiten und eine ruckelige Bedienung des Infotainmentsystems gehören der Vergangenheit an.
Noch Ende dieses Jahres will BMW mit der Auslieferung der ersten Fahrzeuge beginnen. Auf das am Freitag vorgestellte SUV iX3 folgt im kommenden Frühjahr die Limousine i3. Anschließend dürften ein i5 und ein iX5 folgen, auch die 7er-Reihe wird durch ein Modell der Neuen Klasse ergänzt. Bis 2027 will BMW sechs Modelle auf den Markt bringen.
Auch Mercedes-Chef Källenius will mit einer Produktoffensive gegensteuern: Zwischen 2025 und 2028 bringt die Marke mit dem Stern Dutzende neue und überarbeitete Fahrzeuge auf den Markt und verbreitert ihr Angebot an Elektroautos deutlich.
So soll die Stromversion der C-Klasse Ende 2026 auf den Markt kommen, der Start der elektrischen E-Klasse ist für 2027 geplant. Källenius ist überzeugt: Spätestens 2027 werde man die Ergebnisse der Produktoffensive auch in der Bilanz sehen.
Chinesische Hersteller in Europa bisher nicht etabliert
Brandt warnt vor zu viel Vorfreude. Die Branche müsse selbstkritisch sein. „Trotz enormer Aufwendungen bei Forschung und Entwicklung ist der Output verhältnismäßig schwach.“ Zudem habe Deutschland nach wie vor ein Kostenproblem. „Nirgendwo sonst auf der Welt ist es so teuer, ein Auto herzustellen“, sagt Brandt.
Immerhin konnten die europäischen Hersteller den ersten Angriff chinesischer Hersteller in Europa abwehren. Auf der IAA 2023 hatten Marken wie BYD, Xpeng, MG oder Leapmotor die Messe dominiert und Sorgen in der deutschen Autoindustrie vor einem harten Wettbewerb auf dem europäischen Markt ausgelöst. Doch die chinesischen Newcomer sind mit Ausnahme einzelner Modelle bislang daran gescheitert, nennenswerte Marktanteile in Europa zu erobern.
Von den in diesem Jahr in Europa knapp 1,5 Millionen Elektroautos stammten lediglich knapp 105.000 Fahrzeuge von chinesischen Herstellern. Der Marktanteil der mehr als ein Dutzend zählenden Marken beläuft sich lediglich auf 7,1 Prozent. Der Elektro-Marktanteil von Volkswagen, Mercedes und BMW in Europa dagegen liegt bei über 40 Prozent. Europa bleibt damit noch die Bastion der deutschen Hersteller.
Nun müssen VW, Mercedes und BMW die Schwächen in China überwinden. Sonst drohen die einst global agierenden deutschen Hersteller zu regionalen Champions degradiert zu werden.
Dieser Text erschien zuerst beim Handelsblatt.